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Erst Fettsucht, dann Diabetes

Abstract zum Vortrag von Prof. Dr. med. Stephan Herpertz, Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie LWL-Klinik Dortmund, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum, im Rahmen der diesjährigen Herbsttagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) in Berlin.

Präventionsstrategien gegen eine Volksseuche

Ursachen, Ausmaß und Auswirkungen der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen

Übergewichtig ist in den Wohlstandsgesellschaften etwa ein Drittel aller Menschen. Dabei wird deutlich, dass Übergewicht und Adipositas nicht nur ein Problem der Industrienationen darstellt, sondern auch die sogenannten Schwellenländer betrifft. So stieg die Prävalenz der Adipositas bei Vorschulkindern in den Städten der Volksrepublik China von 1,5 % im Jahr 1989 auf 12,6 % im Jahr 1997 (Luo & Hu 2002). In Deutschland sind 10-20 % der Schulkinder und Jugendlichen als übergewichtig bzw. adipös einzustufen (alters- und geschlechtsspezifischer 90 %- bzw. 97 %-Perzentilwert der Normstichprobe). Vor 25 Jahren betrug die Prävalenz des Übergewichts zehn Prozent, heute sind es je nach Alter und Region 20 bis 33 %.

Dabei lässt sich die Tendenz beobachten, dass der Anteil der Übergewichtigen und Adipösen in älteren Altersgruppen höher als in jüngeren ist (Kromeyer-Hauschild 2005). In den letzen Jahren ist ein Anstieg der Häufigkeit des Übergewichts und der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten (Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW, 2003). Darüber hinaus mehren sich die Hinweise, dass nicht nur die Zahl der adipösen Kinder, sondern auch deren Körpergewichte deutlich zugenommen haben (Wabitsch 2004). Insbesondere bei Kindern von türkischen und anderen ausländischen bzw. immigrierten Familien ist von einer doppelt so hohen Prävalenz von Übergewicht im Vergleich zu Kindern aus deutschen Familien auszugehen.

45 % der adipösen Kinder und bis zu 85 % der adipösen Jugendlichen werden adipöse Erwachsene. Die Adipositas ist mit verschiedenen Krankheitsbildern assoziiert. Im Vordergrund steht ein deutlich erhöhtes Risiko für die Entwicklung verschiedener Krankheiten wie Diabetes mellitus Typ 2, arterielle Hypertonie, koronare Herzerkrankung und Fettstoffwechselstörungen. Übergewichtige Kinder und Jugendliche weisen im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern Einschränkungen der Lebensqualität in fast allen Lebensbereichen auf, wobei Selbstwertprobleme häufig im Vordergrund stehen.

Der evolutionsbiologische Vorteil, in Zeiten der Verfügbarkeit von Nahrung zuzunehmen und so für Notzeiten Reserven zu bilden, hat sich erst in den letzten 50 Jahren durch permanenten Überfluss an Nahrungsmitteln und abnehmender körperlicher Bewegung zu einem Nachteil entwickelt. Diese Entwicklung lässt sich insbesondere an Kindern und Jugendlichen beobachten. So verzehren Kinder und Jugendliche zu wenig pflanzliche Lebensmittel, u. a. Gemüse, Kartoffeln und Brot/Getreideprodukte, aber zu viel fettreiches Fleisch und energiereiche Süßigkeiten. Es zeigt sich ein Missverhältnis der Nährstoffe mit hohen Anteilen Fett, gesättigten Fettsäuren und Zucker sowie niedriger Ballaststoff- und Energiedichte.

Die körperliche Bewegung der Kinder und Jugendlichen hat in den letzten Jahrzehnten dramatisch abgenommen. Ein Viertel der Kinder spielt einmal oder weniger pro Woche im Freien. Pro Tag liegt und sitzt ein durchschnittliches Grundschulkind 9 Stunden und bewegt sich 1 Stunde. Das macht deutlich, dass der organisierte Sport den Verlust an Bewegung nicht kompensieren kann. Vergleichsuntersuchungen an Schulkindern haben ergeben, dass die motorische Leistungsfähigkeit sich in den letzen 25 Jahren um 10 % verschlechtert hat.

Die Gründe für die sinkende Mobilität sind vielfältig, wobei sicherlich dem Fernseh- und Videokonsum, der Ausdehnung der Sendezeiten und der Industrialisierung der Film- und Medienbranchen mit dem Siegeszug der PCs einschließlich PC-Spiele eine entscheidende Bedeutung zukommt. Nicht zuletzt ist aber auch die zur Bewältigung der im Alltag erforderlichen körperlichen Aktivität deutlich rückläufig, z. B. durch Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln und Pkw für den Schulweg.

Nicht zu unterschätzen ist das häufigere Auftreten von Übergewicht und Adipositas in Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status. So ist einer der wenigen relativ robusten Prädiktoren für den Gewichtsverlauf des Kindes bzw. Jugendlichen neben dem Gewicht der Eltern der sozioökonomische Status der Familie und damit einhergehend das Bildungsniveau.

Die Behandlungsergebnisse der Adipositas im Kindes- und Jugendalter sind ebenso wie im Erwachsenenalter nicht zufriedenstellend. So konnten langfristige Behandlungserfolge bisher für keine einzige Behandlungsstrategie überzeugend nachgewiesen werden. Umso entscheidender sind präventive Maßnahmen. Dabei sei herausgestellt, dass Maßnahmen, die einseitig auf die individuelle "Verhaltensänderung" abzielen, zu kurz greifen. Ohne gesellschaftspolitische Maßnahmen, die auf eine "Verhältnisänderung" abzielen, wird eine erfolgreiche Vorbeugung gegenüber der Adipositas nicht gelingen.

So sind im Rahmen der "Verhaltensänderung" regelmäßige Mahlzeiten, Vermeiden von Zwischenmahlzeiten, Einschränkung des Konsums kalorienhaltiger Getränke, Verminderung des Fettkonsums, Einschränkung der Fernseh- und Medienzeiten und ein höheres Maß an körperlicher Aktivität notwendig. Auf gesellschaftspolitischer Ebene wären der Schulsport und Sportvereine zu fördern und die Fernsehsendezeiten insbesondere des Kinderprogramms einzuschränken. Vom Gesetzgeber zu fordern wäre die transparente und für den Verbraucher verständliche Etikettierung ernährungsphysiologisch sinnvoller Nahrungsmittel. Auch sollten ökonomische Anreize für kommerzielle Anbieter von beispielsweise Sportartikeln bzw. Programmen zur Förderung der Bewegung(sfreude) geschaffen werden, umgekehrt wäre die höhere Besteuerung von energiedichten, hochkalorischen Nahrungsmitteln zu diskutieren.

zuletzt bearbeitet: 26.10.2007 nach oben

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