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Wie viele Medikamente brauchen ältere Menschen mit Diabetes mellitus?

Abstract zum Vortrag von Alexander Friedl, Internist, Diabetologe DDG, Geriater, Ärztlicher Leiter Geriatrisches Zentrum Stuttgart, im Rahmen der Vorab-Pressekonferenz zur 9. Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) am 28. Oktober 2015 in Berlin.

Therapieziele im Alter an die Bedürfnisse des Einzelnen anpassen

Alexander Friedl Die Menschen in Deutschland werden immer älter und der Diabetes mellitus, also die sogenannte "Zuckerkrankheit", ist eine Erkrankung, die ganz besonders gehäuft bei älteren Menschen vorkommt. In welch dramatischer Entwicklung wir uns gerade befinden, mag der Altenquotient für Deutschland veranschaulichen: Sind derzeit circa 34 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter älter als 65 Jahre, so werden es nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts im Jahre 2050 über 50 Prozent sein und 2060 über 60 Prozent.

Jeder vierte Mensch über 75 Jahre hat einen Diabetes mellitus. Zum Vergleich: In der Altersgruppe der 40 bis 60-Jährigen sind es circa vier bis zehn Prozent. Dabei gibt es bei älteren Menschen noch weitere Unterschiede: Mit zunehmendem Alter kommt es bei jedem von uns zu Veränderungen von Stoffwechselvorgängen und Körperfunktionen. Zusätzlich spielen geriatrische Syndrome immer häufiger eine Rolle, also sogenannte "Alterswehwehchen" wie zum Beispiel Störungen der Sinnesorgane, Inkontinenz, Gangstörungen, Fehl- und Mangelernährung, Schwindel und auch geistige Beeinträchtigungen. Und dazu kommt dann noch die sogenannte "Multimorbidität", das heißt, ältere Menschen haben oft nicht nur eine, sondern gleich mehrere Erkrankungen zugleich. Dies alles muss auch bei der Behandlung älterer Menschen mit Diabetes berücksichtigt werden. Berücksichtigt man dann noch die individuellen Wünsche und Erwartungen jedes Menschen mit Diabetes und seine jeweilige Lebenserwartung, wird rasch klar, wie komplex und unterschiedlich die Gegebenheiten bei diesen Menschen sind. Menschen der gleichen Altersgruppe können sehr unterschiedlich in ihren Problemen, Möglichkeiten und Wünschen sein! Schon bei 65-Jährigen reicht die Spanne vom unselbstständigen Pflegeheimbewohner bis zum voll Berufstätigen.

Wie kommt man also zu einer guten und individuellen Behandlungsplanung?

Das kalendarische Alter alleine hilft uns offensichtlich nur bedingt weiter, auch wenn dies bei solchen Fragen oft als die primäre Grundlage genommen wird. Nicht selten hört man pauschale Fragen von ärztlichen Kollegen: "Wie behandeln Sie eine 80-Jährige?" Oder besonders kritisch auftretende Mediziner äußern öffentlich grundsätzlich, dass zum Beispiel bei 70-jährigen Diabetikern das Vermeiden von Folgeschäden kein Therapieziel mehr sein müsse. Dabei haben 70-jährige Frauen in Deutschland eine durchschnittliche Lebenserwartung von über 16 Jahren, bei Männern sind es mehr als 13 Jahre, und selbst mit 80 Jahren hat eine Frau im Durchschnitt noch mehr als neun Jahre zu leben, ein gleichaltriger Mann sieben. Und in der Angabe "durchschnittlich" sind natürlich Menschen enthalten, die nur eine deutlich kürzere Zeit vor sich haben, wie auch andere, die viele Jahre länger leben, als es für den Durchschnitt errechnet worden ist. Die Gruppe der Hochaltrigen ist die am stärksten wachsende Altersgruppe und man geht davon aus, dass ein Viertel der heute geborenen Mädchen einmal das Alter von hundert Jahren erreichen wid.

Wie also kann man bei all diesen Verschiedenheiten allgemeingültige Antworten geben?

Zudem enthalten solche sich nur auf das Alter beziehende Aussagen zu diesem Thema auch oft die Annahme, dass diese Menschen ihren Diabetes erst neu bekommen hätten oder bisher noch keinerlei Folgeschäden des Diabetes beständen. In Wirklichkeit haben viele ältere Menschen mit Diabetes diese Erkrankung bereits seit Jahren und Jahrzehnten und leider auch dadurch bedingte Schädigungen, die somit jährlich fortschreiten können.

Medizinische Leitlinien geben den wissenschaftlichen Stand der Diagnostik und Behandlung für viele Krankheiten wieder. Aber: Sie gelten in der Regel nur für eine einzelne Erkrankung, ohne das gemeinsame Auftreten mit anderen Erkrankungen zu berücksichtigen, und die Besonderheiten älterer Menschen werden ebenfalls oft nicht beachtet.

Eine Ausnahme bildet hier die Deutsche Diabetes Gesellschaft, die 2004 eine Leitlinie für "Diabetes mellitus im Alter" veröffentlichte. An deren Erstellung wirkte ich mit und das Finden von wissenschaftlicher Evidenz, also in Studien nachgewiesenen Belegen für bestimmte Aussagen, war enorm schwierig, da es weltweit nur ganz wenig gut gemachte Veröffentlichungen zu diesem Thema gab.

Derzeit, über zehn Jahre später, wird die Leitlinie "Diabetes im Alter" neu geschrieben und es wird sich zeigen, inwieweit es hier Fortschritte im wissenschaftlichen Sinne gibt. Bei der Verschiedenheit älterer Menschen wird aber selbst die beste Leitlinie nur bedingt weiterhelfen. Entscheidend wird es immer sein, zunächst einmal den Menschen, den Patienten mit Diabetes mellitus in seiner Gesamtheit zu erfassen - und hier ist die Geriatrie eine gute Ergänzung. Geriatrie ist weit mehr als einfach das Behandeln eines älteren Menschen. Eine gute geriatrische Behandlung beinhaltet die umfassende Beurteilung des aktuellen Stands eines Menschen: Welche Altersveränderungen liegen vor, welche geriatrischen Syndrome, welche Krankheiten und welche funktionellen Defizite, also welchen Hilfebedarf beziehungsweise welche Ressourcen hat dieser Mensch? Auf dieser Grundlage können dann mit ihm und gegebenenfalls seinen Angehörigen sinnvolle Therapieziele besprochen werden und auch seine Wünsche an eine diabetologische Therapie berücksichtigt werden.

Soll oder muss die Therapie eher einfach sein, weil etwas Komplizierteres eine Überforderung darstellt oder weil der Patient möglichst keine Hilfe, wie zum Beispiel zur Insulininjektion, in Anspruch nehmen möchte? Ist der Mensch vielleicht noch sehr rüstig und unternehmungslustig und benötigt daher ein großes Maß an Flexibilität in seiner Behandlung? Oder ist der Mensch vielleicht dement und sein Verhalten, was zum Beispiel Ernährung und Bewegung angeht, ist kaum vorhersehbar, sodass man jeweils versuchen muss, durch eine darauf angepasste Therapie Entgleisungen der Blutglukosewerte nach oben und unten zu vermeiden? Und dann kommen dazu noch Folgeschäden des Diabetes mellitus und weitere Erkrankungen, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen bei der Absprache der Therapieziele und insbesondere auch bei der Auswahl der geeigneten Medikation.

Ein grundlegendes Therapieziel hat sich in den letzten Jahren für ältere Menschen eindeutig als sinnvoll erwiesen: das Vermeiden von Hypoglykämien, also von Unterzuckerungen. Allein dies kann auf verschiedene Arten erreicht werden: Die Wahrscheinlichkeit für Unterzuckerungen ist geringer, wenn man die Blutglukosewerte sicherheitshalber auf relativ hohem Niveau lässt, man kann das aber auch erreichen, wenn man blutzuckersenkende Medikamente jeweils engmaschig an das Verhalten des Patienten anpasst oder auch, wenn man Medikamente auswählt, die vom Wirkprinzip her nur ein geringes Hypoglykämierisiko haben. Da ist dann aber wieder zu hinterfragen, ob diese Medikamente beim jeweiligen Patienten überhaupt wirken können oder ob sie sich mit anderen Erkrankungen oder anderen Medikamenten vertragen.

Ein Therapieziel muss auch nicht die bloße - und für viele Menschen abstrakte - Senkung von Blutglukosewerten sein. Gerade bei älteren Menschen kann ein besser eingestellter Diabetes mellitus auch mit einer spürbaren Besserung des Allgemeinbefindens, mit größerer Vitalität einhergehen, die Nachtruhe kann erholsamer werden, wenn man nicht mehr so häufig zur Toilette muss, eine Inkontinenz kann sich bessern, vielleicht wird auch das Gedächtnis besser oder nehmen Schwindelsymptome ab oder die Rate an Infektionen. Es ist sehr wichtig, mit älteren Menschen solche möglichen und vor allem im Alltag spürbaren Zusammenhänge zu besprechen. Ein Mensch, der verstanden hat, worum es geht, ist auch eher bereit, bei der Behandlung gut mitzuarbeiten. Und das ist bei der Diabetestherapie absolut entscheidend! Und so hat vielleicht auch ein älterer Mensch die Chance, zu bemerken, dass es bei der Behandlung des Diabetes mellitus nicht nur um die häufigen wissenschaftlichen Fragen geht: Folgeschäden zu vermeiden oder Sterblichkeit zu verringern, sondern auch darum, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit zu steigern, letztlich Selbstständigkeit zu erhalten und den Menschen mit seinen individuellen Gegebenheiten und Wünschen ernst zu nehmen.

Die Verbindung von Diabetologie und Geriatrie kann das leisten. Und bei der zunehmenden Menge Älterer wird das lohnend sein - primär für den einzelnen Menschen.

Das Vermeiden von Komplikationen, der bessere Erhalt von Selbstständigkeit und die sinnvollere Nutzung der Ressourcen des Gesundheitssystems sind aber auch ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft!

(Es gilt das gesprochene Wort!)

Bildunterschrift: Alexander Friedl
Bildquelle: Deutsche Diabetes Gesellschaft

zuletzt bearbeitet: 19.11.2015 nach oben

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