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Fängt Übergewicht im Kopf an?

Abstract zum Vortrag von Professor Dr. med. Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, im Rahmen der Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM) am 9. Februar 2017 in Berlin.

Psychische Aspekte der Erkrankung

Professor Dr. med. Martina de Zwaan Die zunehmende Prävalenz von Übergewicht und Adipositas macht deutlich, dass wir mehr Nahrung zu uns nehmen, als für den Erhalt eines normalen Gewichts notwendig wäre. Der moderne inaktive Lebensstil mit hohem passivem Medienkonsum, Bewegungsmangel und der hohen Verfügbarkeit energiedichter Speisen und Getränke spielt die entscheidende Rolle in der Entstehung und vor allem der raschen Zunahme der Prävalenz der Adipositas. Die aufgenommene Nahrungsmenge steigt mit der Portionsgröße unabhängig vom Geschmack. Wir leben aber in einer adipogenen Umwelt, die von Hypomotilität und Hyperalimentation geprägt ist und über die Sättigung hinaus via Aktivierung des Belohnungssystems den Verzehr hochkalorischer, energiedichter Nahrungsmittel propagiert ("evolutionary mismatch"). Nahrung ist ein potenter natürlicher positiver Verstärker des Belohnungssystems. Allein die visuelle Präsentation schmackhafter Nahrungsmittel führt zu einer deutlichen Zunahme des gesamten Gehirnstoffwechsels.

Der im Überfluss vorhandenen schmackhaften Nahrung kann unser komplexes internes homöostatisches System keine ausreichende Bremse entgegensetzen. Wir sind gezwungen, uns kognitiv zu kontrollieren. Das fällt manchen Menschen schwerer als anderen. Hierbei spielen psychische Risikofaktoren eine Rolle, die die kognitive Kontrolle beeinträchtigen können. Die S3-Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG 2014) fassen folgende psychosoziale Risikofaktoren für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas zusammen:

Die psychische Komorbidität ist bei adipösen Menschen in der Allgemeinbevölkerung und vor allem bei adipösen Menschen, die an Gewichtsreduktionsprogrammen teilnehmen, deutlich erhöht. Bis heute existieren jedoch keine schlüssigen Hinweise für eine ausschließlich psychische Verursachung von Übergewicht und Adipositas. Dies schließt nicht aus, dass im Einzelfall psychische Faktoren eine große Rolle in der Genese von Übergewicht und Adipositas spielen können. Aus der praktischen klinischen Erfahrung wissen wir, dass Essen ein Mittel sein kann, um psychische Probleme zu lindern beziehungsweise unangenehme Gefühle besser ertragen zu können. Dass seelische (Ver-)Stimmungen sowohl hypo- wie hyperkalorisches Essverhalten induzieren können, ist volksmündlich durch zahlreiche Zitate dokumentiert ("das Problem schlägt auf den Magen"; "die Wut in sich hineinfressen"). Diese Sprichwörter machen deutlich, dass das Essen neben der Hungersättigung offensichtlich wichtige andere Funktionen erfüllen muss, die sich zum Beispiel unter dem Begriff der Affektregulation zusammenfassen lassen.

Bei Menschen mit Adipositas wird oft unvorteilhaftes Entscheidungsverhalten beobachtet. Die Betroffenen handeln auch entgegen ihrer expliziten Handlungsabsichten, etwa sich an eine bestimmte Diät zu halten. Das sind oft automatische Prozesse, die nicht der bewussten Kontrolle unterliegen.

Adipöse Menschen werden zudem häufig für ihr Übergewicht verantwortlich gemacht, sehen sich verbreiteten negativen Stereotypien (zum Beispiel faul und undiszipliniert zu sein) ausgesetzt und erfahren gesellschaftliche Missbilligung. Stigmatisierende Einstellungen gegenüber adipösen Menschen entstehen im Kontext von Annahmen über die Kontrollierbarkeit von und die Verantwortlichkeit für Übergewicht. Stigmatisierungserfahrungen können zu Selbstinvalidierung führen; im Sinne eines Circulus vitiosus kann sich dadurch eine Zunahme maladaptiven Essverhaltens entwickeln.

Trotz der Vielzahl an Diätbüchern und anderer stark beworbener, scheinbar einfacher Gewichtsreduktionsstrategien zeigt der deutliche Anstieg der Adipositas, dass diese Strategien unzureichend sind. Eine Gewichtsabnahme von fünf bis zehn Prozent des ursprünglichen Gewichts, die über ein Jahr gehalten wird, gilt als Erfolg. Dieses Ziel wird allerdings von vielen Patienten als enttäuschend niedrig bewertet. Aufgrund dieser eher bescheidenen Langzeitergebnisse konservativer Behandlungsmaßnahmen, wozu auch die Psychotherapie, egal welcher Ausrichtung, zählt, wird nicht mehr ein Normalgewicht (Body-Mass-Index/BMI 18-25 kg/m2), sondern eine moderate, aber dauerhafte Gewichtsabnahme als Behandlungsziel definiert.

Da die Adipositas als chronische Erkrankung mit hoher Rezidivneigung anzusehen ist, sollten dem Patienten über die Phase der Gewichtsabnahme hinaus geeignete Maßnahmen zur langfristigen Gewichtsstabilisierung empfohlen werden. Verhaltensfaktoren und psychologischen Variablen scheint eine nicht unerhebliche Rolle für die Fähigkeit, ein reduziertes Gewicht erfolgreich zu halten beziehungsweise zu stabilisieren, zuzukommen. Um das Gewicht langfristig zu halten, bedarf es einer andauernden kognitiven Kontrolle der Nahrungsaufnahme. Umwelt und Biologie sind dabei mächtige Gegner. Die Erwartungen an Langzeiterfolge sollten realistischer werden, die Zufriedenheit auch mit geringer dauerhafter Gewichtsreduktion möglichst gesteigert werden. Ausgeprägte psychische Probleme wie ADHS, Essanfälle ("binge eating"), Depression sollten speziell behandelt werden, da sie den Gewichtserhalt unabhängig von biologischen und Umweltfaktoren beeinträchtigen können.

(Es gilt das gesprochene Wort!)

Bildunterschrift: Professor Dr. med. Martina de Zwaan
Bildquelle: Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM)

zuletzt bearbeitet: 27.02.2017 nach oben

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