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pAVK und Diabetischer Fuß

Statement von Professor Dr. med. Dittmar Böckler, Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e.V. (DGG) und Ärztlicher Direktor der Klinik für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie am Universitätsklinikum Heidelberg, im Rahmen der Online-Pressekonferenz am 13. Oktober 2021 anlässlich der Hybridjahrestagung der DGG.

Bei Schaufensterkrankheit, Wundversorgung und Amputationsprävention ist die Gefäßchirurgie ist gefragt

Professor Dr. med. Dittmar Böckler Gefäßerkrankungen sind Volkskrankheiten, von denen Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind. Die periphere arterielle Verschlusskrankheit (abgekürzt pAVK, oft als Schaufensterkrankheit bezeichnet) und die gefäßbedingten Folgen des Diabetes mellitus stellen in Deutschland solche Volkskrankheiten dar.

Die Gefäßchirurgie als medizinische Fachdisziplin spielt eine zentrale Rolle bei der Versorgung dieser Patientinnen und Patienten, die von Verlust der Mobilität, von nicht heilenden Wunden und eventuell von Amputationen bedroht sind.

Die Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin hat es sich deshalb zur Aufgabe mit höchster Priorität gemacht, über Vorbeugung, Diagnostik und Therapieoptionen aufzuklären und beratend zur Verfügung zu stehen.

In Deutschland leben 6,9 Millionen Typ-2-Diabetiker und 340.000 Menschen mit Typ-1-Diabetes. Acht Millionen Diabetiker in Deutschland stellen neun Prozent der Bevölkerung unseres Landes dar. Seit 1998 ist die Häufigkeit des Diabetes um 24 Prozent pro Jahr durch 500.000 Neuerkrankungen gestiegen, vor allem beim Typ-2-Diabetes. Die Dunkelziffer ist groß, denn viele Menschen wissen nicht, dass sie einen latenten Diabetes, also eine latente Stoffwechsellage, haben. Die Gründe für die Zunahme sind zum einen die Demografie, das heißt die Alterung der Bevölkerung, familiäre Veranlagung und Ãœbergewicht. Die Folgen sind eine verkürzte und verringerte Lebenserwartung, denn jede Stunde sterben drei Menschen an den Folgen des Diabetes mellitus, zwar nicht allein an den gefäßbedingten Folgen, aber an der Erkrankung selbst.

Jedes Jahr erblinden zum Beispiel 2000 Menschen an den Spätfolgen des Diabetes mellitus, jeder dritte Diabetiker erfährt Nierenschäden und jeder vierte entwickelt ein sogenanntes "diabetisches Fußsyndrom", eine Erkrankung mit Wundheilungsstörungen und offenen Hautstellen, zum Teil druckbedingt, an den Füßen, die aufgrund der begleitenden Gefäßerkrankung beim Diabetes mellitus entstehen. Jedes Jahr werden circa 40.000 Amputationen durchgeführt, davon 13 000 sogenannte „Majoramputationen“, also Ober- und Unterschenkelamputationen; das diabetische Fußsyndrom stellt hier einen großen Anteil dar.

Die Symptome beim Diabetes mellitus sind vor allem begründet in der sogenannten "Polyneuropathie", also der Folgeerkrankung an den Nerven, bei der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit ist das führende Symptom die Reduktion der Gehstrecke, auch "Claudicatio intermittens" oder "Schaufensterkrankheit" genannt. Als wichtige Differentialdiagnosen sind hier die Arthrose, also der Gelenkverschleiß, und die Symptome durch Bandscheibenvorfälle zu nennen. Spätere Symptome sind dann "Ruheschmerz", also Schmerzen in der Wade und im Fuß in Ruhe, aufgrund einer Minderdurchblutung und einer nicht heilenden Wunde, die länger als acht Wochen besteht. Deshalb muss man Patienten mit Wunden, die länger als acht Wochen keine Abheilung erfahren, auf jeden Fall einer Gefäßdiagnostik unterziehen. Dies ist hochgerechnet ungefähr bei einer Million der Menschen, die eine chronische Wunde haben, der Fall - in 50 bis 60 Prozent der Fälle liegt eine Gefäßproblematik vor. Eine gefürchtete Folgeerkrankung der Stoffwechselstörung sind Fußgeschwüre, aus denen sich häufig chronische Wunden entwickeln. Jeder vierte Diabetespatient entwickelt im Laufe seines Lebens ein solches diabetisches Fußsyndrom, dessen Behandlung die Hälfte aller Krankenhaustage bei Diabetespatienten beansprucht.

Zugleich ist das diabetische Fußsyndrom hierzulande die mit Abstand häufigste Amputationsursache. Mit über 40.000 Amputationen pro Jahr liegt Deutschland seit vielen Jahren leider europaweit im oberen Bereich. Durch die konsequente Prävention von Fußgeschwüren, die rechtzeitige Diagnostik und eine interdisziplinäre Therapie von Gefäßverschlüssen ließen sich jedoch 60 bis 80 Prozent dieser Amputationen vermeiden, insbesondere Oberschenkel- und Unterschenkelamputationen. Um den Verlust einer unteren Extremität zu vermeiden, ist es entscheidend, die arterielle Durchblutung des betroffenen Beines zu verbessern. Wie gut dies mit welchen Maßnahmen gelingen kann, zeigt eine Untersuchung der Gefäße, eine Darstellung mittels sogenannter Angiografie. Das ungeschriebene Gesetz lautet daher: keine Amputation ohne vorherige Gefäßdarstellung und Konsultation eines Gefäßmediziners beziehungsweise Gefäßchirurgen. Jährlich erscheint von der Deutschen Diabetes Gesellschaft, der AG Diabetisches Fußsyndrom, ein sogenannter "Fußpass" für Diabetiker. Eine Aktion, die Patienten rechtzeitig sensibilisieren soll.

An der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) leiden 200 Millionen Menschen weltweit. Die Prävalenz, also die Häufigkeit einer Erkrankung, ab dem 60. Lebensjahr beträgt acht Prozent und über 70 Jahre 15 bis 20 Prozent. Die getABI-Studie (German epidemiological trial on ankle brachial index) hat eine Prävalenz von 21 Prozent in der Bevölkerung in Deutschland bestätigt. 20 Prozent, also jeder Fünfte, gelten als symptomatisch, haben also Beschwerden und berichten über eine Reduktion der Gehstrecke, Ruheschmerzen oder nicht abheilende Wunden.

Anhand aktueller Krankenhauskassendaten ist eine Zunahme der Diagnose "periphere arterielle Verschlusskrankheit" von 23 Prozent zu beobachten. Die stationäre Behandlung aufgrund einer pAVK ist ebenfalls um 25 Prozent gestiegen.

Die Durchblutung des Beines kann mit verschiedenen Eingriffen verbessert werden - dafür stehen Bypassoperationen, aber auch katheterbasierte minimalinvasive Verfahren wie die Aufweitung eines verschlossenen Gefäßes mithilfe eines Ballons ("Ballondilatation") zur Verfügung. Für die Bypassoperation liegen uns vom Schenkel bis zum Fuß sehr gute Langzeitergebnisse vor. Die Verfahren können dem Patienten für sich allein, manchmal in sogenannten Hybrideingriffen kombiniert überaus effektiv angeboten werden. Hinzu kommen fußchirurgische Eingriffe sowie plastisch-rekonstruktive Operationen, bei denen Haut verpflanzt wird, um Wunden zu schließen, die den Knochen angreifen. Diese Therapien sollten aber möglichst rechtzeitig angewendet werden.

Welches Verfahren am Ende infrage kommt, muss individuell für jeden Patienten anhand dessen Risikoprofils, dessen Gefäßdarstellung und Wundbefunds von einem interdisziplinären Behandlungsteam entschieden werden. In einem solchen Team sollten Gefäßchirurgen vertreten sein, aber auch Angiologen, Radiologen, Hausarzt oder Diabetologe, Orthopäden sowie nicht ärztliche Assistenzberufe wie Podologen, Fachpflege für Wundbehandlung, orthopädische Schuhmachermeister bis hin zu Schmerztherapeuten und Psychologen.

Amputationen führen zu einer Reduktion der Lebensqualität und stellen gleichzeitig aber auch eine Erhöhung der Sterblichkeit dar. Die aktuellen Amputationszahlen in Deutschland, anhand einer Studie von Kühnle et al. im Journal Gefäßchirurgie 2020, geben an, dass über 50.000 Amputationen, das entspricht also einer Viertelmillion in fünf Jahren in Deutschland, durchgeführt werden.

Andererseits konnte eine Reduktion der sogenannten "Majoramputationen" von Ober- und Unterschenkel um 30 Prozent beobachtet werden, dafür aber eine Zunahme der sogenannten "Minoramputationen" von Zehe und Vorfuß sowie Grenzzonenamputationen um 21 Prozent. Hier sind regionale Unterschiede in Deutschland mit einem Ost-West-Gefälle zu beobachten. Leider ist auch bekannt, dass nur 25 Prozent der Patienten mit chronischen Wunden auf Gefäßerkrankungen untersucht werden. Wir wissen, dass von chronischen Wunden, die mit einer Häufigkeit von 400.000 bis 1,8 Millionen Menschen in Deutschland zu beziffern sind, 48 Prozent eine venöse Ursache, also Ursache von Venenerkrankungen, haben, 18 Prozent arteriovenös sind und 14 Prozent einer arteriellen Durchblutungserkrankung unterliegen, wie zum Beispiel der AVK. Jeder Verlust einer Extremität hat negative Auswirkungen nicht nur auf die Lebensqualität, sondern auch auf die Lebenserwartung. So überlebt nach einer sogenannten Majoramputation, das heißt einer Entfernung des ganzen Ober- und Unterschenkels, nur ein Viertel der Diabetespatienten fünf Jahre; bei der Minoramputation unterhalb des Knöchels sind es 80 Prozent. Die Vermeidung von Majoramputationen ist daher oberstes Gebot in der Therapie des diabetischen Fußsyndroms.

Schlussfolgerungen:

Aus Sicht der Gefäßchirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin sind die rechtzeitige fachärztliche Vorstellung und Diagnostik zur Vermeidung und zur Reduktion von Amputationen eine vordergründig wichtige Aufgabe. Die Aufklärung der Bevölkerung und der entsprechenden Risikogruppen, die Prävention und das Screening sind entscheidende Maßnahmen. Man könnte dadurch 60 bis 80 Prozent der Amputationen vermeiden. Primäre Anlaufstelle ist der Hausarzt; es ist aber auch eine rechtzeitige fachärztliche, am besten interdisziplinäre Vorstellung beim Gefäßchirurgen notwendig, der wiederum mit Angiologen sowie Diabetologen zusammenarbeitet.

In den letzten zwei Jahren stellte die SARS-Covid-Pandemie diesbezüglich ein großes Problem dar, die Patienten hatten Angst vor Ansteckung und mieden deshalb die ärztliche Konsultation und haben sich deshalb oft zu spät vorgestellt.

Wir appellieren deshalb im Rahmen dieser Pressekonferenz, dass die Gefäßchirurgie mit einem multimodalen Behandlungsspektrum die richtige Adresse, den richtigen Ansprechpartner für die Prävention, das Screening und die rechtzeitige Diagnostik mit eventueller anschließender Therapie, darstellt. Des Weiteren möchten wir nochmals betonen, dass eine Amputation niemals ohne entsprechende Gefäßdarstellung (Angiografie) durchgeführt werden sollte und die Einholung einer Zweitmeinung vor einer geplanten oder vermeintlich notwendigen Amputation seit April 2019 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) empfohlen wird und von den gesetzlichen Krankenkassen auch als Leistung übernommen wird.

(Es gilt das gesprochene Wort!)

Bildunterschrift: Professor Dr. med. Dittmar Böckler
Bildquelle: Medienzentrum Universitätsklinikum Heidelberg

zuletzt bearbeitet: 15.10.2021 nach oben

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