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Das Zuckerverbot
Kein Zucker für Zuckerkranke?!?
Jahrzehntelang wurden Menschen mit Diabetes vor dem Verzehr von normalem Zucker gewarnt, und die meisten haben ihn daher gemieden. Nun heißt es: Zucker kann genauso gegessen werden wie andere Kohlenhydrate, er muss nur auf die im Rahmen der Ernährung festgelegten Kohlenhydrate angerechnet werden (Amerikanische Diabetesgesellschaft 1994). Wenn jemand also vier Broteinheiten zum Mittag essen will, so könnten es 320 Gramm Kartoffeln, aber auch 100 Gramm normale Schokolade sein.
Viele Menschen, die sich Jahrzehnte an das Zuckerverbot gehalten haben, können kaum verstehen, dass es nun nicht mehr gelten soll. Wie kann etwas falsch sein, das man jahrelang mit gutem Erfolgen für den Blutzucker berücksichtigt mit hat? - Man hat es allerdings auch nie anders probiert und überprüft. Was sind die Gründe dafür, dass das Zuckerverbot heute keine Bedeutung mehr hat?
Früher waren Zucker/Traubenzucker und "normale" Süßigkeiten nur bei Unterzuckerungen erlaubt, (besonders Jugendliche mit Diabetes sind deswegen immer wieder gern unterzuckert). Traubenzucker galt als das wichtigste Mittel, einen Unterzucker schnell zu beenden. Dann hieß es: "Danach müssen Sie noch langsam wirkende Kohlenhydrate (KH) essen, sonst geht der Blutzucker schnell wieder nach unten."
Das sollte einer verstehen! Aber viele haben es so gemacht. Heute wird bei Unterzuckerungen allgemein nur empfohlen, 20-30 Gramm Traubenzucker zu essen. Diätgläubige Menschen mit Diabetes haben sehr darauf geachtet, bei der Ernährung allgemein "langsame Kohlenhydrate" (z. B. Vollkornbrot) zu bevorzugen und schnelle (z.B. Weißbrot) zu meiden. Man hatte ihnen beigebracht, dass "schnelle Kohlenhydrate" zu "Blutzuckerspitzen" führen.
Wie kann etwas, das in der einen Situation bei Betroffenen dringend erforderlich ist, in einer anderen Situation Gift sein? Viele dieser Regeln waren tatsächlich vorher nie durch Forschung belegt worden. Einer hat es dem anderen erzählt, und viele haben es geglaubt.
Das Zuckerverbot in der Forschung
In den letzten 30 Jahren konnte die Forschung die meisten dieser angeblich so notwendigen Regeln nicht bestätigen. Die Befürchtungen hatten keine wissenschaftliche Grundlage, und die damit verbunden Ernährungseinschränkungen brachten keinen Vorteil für die Diabetestherapie.
Hauptziel der Diabetesbehandlung heute ist ein möglichst normnaher Blutzuckerspiegel. Es hat sich gezeigt, dass dieses Ziel mit normalem Essen, das auch Zucker enthält, nicht schwerer zu erreichen ist als mit einer zuckerfreien Diät. Natürlich muss man in jedem Fall, egal was man isst, die blutzuckersenkende Therapie auf die Kohlenhydrate abstimmen, die man zu sich nehmen will. Welche KH dies sind, ist zweitrangig. So sagt es seit 1994 die Stellungnahme der traditionell vorsichtigen Amerikanischen Diabetesgesellschaft zur Ernährung bei Diabetes. Aber dort wie hier hat sich diese Erkenntnis noch lange nicht im diabetischen Alltag durchgesetzt.
Schon der Kanadier Prof. D.J.A. Jenkins und Prof. Hellmut Otto aus Bremen hatten vor 30 Jahren herausgefunden, dass Kohlenhydrate unterschiedlich schnell ins Blut gehen, dass die behaupteten Regeln dabei aber nicht galten. Kartoffeln wurden in diesen Studien schneller aufgenommen als Haushaltszucker oder Weißbrot. Und zuckerhaltige Schokolade stand im sogenannten "glykämischen Index" weit hinter allen Gemüse-, Obst und Brotsorten gleichauf mit den Linsen! Der glykämische Index gibt an, wie schnell ein Nahrungsmittel im Vergleich zu Traubenzucker den Blutzucker erhöht.
Findige Diabetiker hatten zur selben Zeit schon herausgefunden, dass ihr Blutzucker sich durch einen Nachtisch von normalem Speiseeis nicht erhöhte. Crapo konnte dies in vielen Studien mit ihrer Softeismaschine bestätigen. Vielleicht hat eine deutsche Diabetesklinik vor einiger Zeit auch deswegen empfohlen, zur Nacht lieber ein Stück Schokolade als einen Apfel zu essen, um eine nächtliche Unterzuckerung zu vermeiden. Allerdings ist auch das überflüssig, wenn man nicht zu viel Insulin spritzt.
Allgemein haben die Listen von Jenkins und seinen Nachfolgern nie eine große Bedeutung für die Diabetesernährung erlangt. Denn die Aufnahmegeschwindigkeit verschiedener Kohlenhydrate schwankte individuell von Tag zu Tag. Kaum jemand aß die angegebenen Nahrungsmittel "pur". In Mahlzeiten waren sie fast immer mit anderen Nahrungsmitteln gemischt.
Studien fanden keine Unterschiede in den Blutzuckerspiegeln von Menschen, die schnelle Kohlenhydrate aßen gegenüber solchen, die langsame bevorzugten. Ob die langsamen Kohlenhydrate aus anderen Gründen gesünder sein könnten - z.B. für eine geregelte Verdauung - mag dahingestellt sein: auch das ist nicht zweifelsfrei bewiesen. Doch wer sich beispielsweise bei Süßigkeiten nicht regelmäßig die Zähne putzt, bekommt wahrscheinlich mehr Karies.
Allein in der Schwangerschaft von Frauen mit Diabetes wird der "glykämische Index" heute noch beachtet. Denn hier geht es darum, durch die richtige Mahlzeitenverteilung und Nahrungsmittelauswahl auch schon leicht erhöhte Blutzuckerwerte nach dem Essen zu vermeiden, die das Kind schädigen könnten. Diese eventuellen Erhöhungen sind aber außerhalb einer Schwangerschaft ohne Bedeutung.
Der Zusammenhang von Diabetes Typ 2 und Übergewicht ist dagegen recht eindeutig bewiesen. Übergewicht erhöht den Insulinbedarf, und wer zu wenig Insulin produziert, bekommt schneller Diabetes. Dick wird man aber nicht durch Süßigkeiten, sondern vor allem durch zu viel Fett. Doch Vorsicht! Wer ständig Schokoriegel isst, hat Zucker und Fett zusammen.
Umgekehrt hat es den Anschein, dass Menschen, die vor allem Kohlenhydrate essen (z.B. viel Obst, Brot oder Reis), kaum an Gewicht zunehmen können. Der Körper kann sehr viele Kohlenhydrate ohne Fettspeicherung verarbeiten. Wenn man also überhaupt etwas zur Ernährung empfehlen kann, so wäre es die Fetteinsparung, um eine Gewichtszunahme zu verhindern. Aber auch hierzu sind längst noch nicht alle Fragen geklärt. Tatsächlich schaffen es in langfristigen Studien nur 10-15% der übergewichtigen Menschen, ihr Gewicht zu reduzieren.
Schlussfolgerung
Jeder Mensch mit Diabetes kann auch Zucker und zuckerhaltige Nahrungsmittel zu sich nehmen. Dies gilt für alle Menschen mit Diabetes, nicht nur für die, die Insulin spritzen. Wer Kohlenhydrate im Rahmen seiner Ernährung richtig berechnet, hat keine schlechteren Blutzucker- und HbA1c-Werte als vorher.
Er kann dies mit Hilfe der Blutzuckerselbstkontrolle prüfen: mehrfach den Blutzucker vor und zwei Stunden nach dem Essen testen, einmal ohne Zucker, einmal mit Zucker, natürlich bei gleicher Kohlenhydratmenge. Am besten bei diesem Vergleich gar keine Diätprodukte verwenden, denn diese sind in ihrer Blutzuckerwirkung schwer abzuschätzen. Wer skeptisch ist, sollte es lieber 20mal statt dreimal prüfen und die Werte aufschreiben. Sonst kann man leicht eine zufällige Erhöhung falsch interpretieren. Wer dann wirklich finden würde, dass sein Blutzucker nach Süßigkeiten viel stärker ansteigt als nach anderen Kohlenhydraten, sollte es wohl bleiben lassen. Aber es kommt selten vor.
Dr. phil. Axel Hirsch
Abt. Diabetes und Stoffwechselerkrankungen
im Bethanien-Krankenhaus Hamburg.
zuletzt bearbeitet: 21.01.2002
Wir danken Dr. Axel Hirsch, der diesen Artikel für die DiabSite geschrieben hat!