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Individualisierte contra Evidenzbasierte Medizin?

Leitlinien dürfen individualisierte Therapien nicht behindern

Die Freiheit des Arztes in der Behandlung muss gestärkt werden

Die individualisierte Medizin ist ein heißes Eisen und entsprechend umstritten, wie sich beim jüngsten Symposium der Novartis-Stiftung für therapeutische Forschung in Nürnberg unter dem Titel "Patientenorientierte Therapieprinzipien - ist individualisierte Medizin vorstellbar?" herausstellte.

Zwar befürworten fast alle Ärzte eine Heilkunst, die den Patienten als Menschen mit individuellen genetischen, körperlichen und seelischen Voraussetzungen begreift. Doch realistisch betrachtet können Ärzte derzeit allenfalls bestimmte Patientengruppen mit ähnlichen Voraussetzungen herausfiltern und nach dieser Maßgabe behandeln - etwa Ältere und Jüngere oder Frauen und Männer. Derlei "individuelle Medizin brauchen wir dringend", mahnte der Münchener Psychiater Professor Hans Förstl.

Inwieweit der Kostendruck im Gesundheitswesen die weitere Entwicklung der individualisierten Medizin beeinträchtigt, darüber herrscht derzeit keine Einigkeit. Der Berliner Nierenspezialist Professor Hans-H. Neumayer sieht die heutige "Medizin von der Stange" deutlich begünstigt, wie er es formulierte. Dabei basiert die qualitative Verbesserung durch evidenzbasierte Medizin darauf, individuelle klinische Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung zu kombinieren. Dazu zählen auch das Können und die Urteilskraft, die die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben. Mitunter aber widersprechen sich die Bestrebungen zur Individualisierung der Medizin und die Interpretation der "evidenzbasierten Medizin", die Politik, Kostenträger und Teile der Ärzteschaft seit einigen Jahren verfolgen.

Kernpunkt: Nur was nachweislich im Sinne aufwändiger Studien für möglichst viele Patienten taugt, zieht ein in die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften und die Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses von Ärzten und Krankenkassen. "Dass die Väter der evidenzbasierten Medizin auch individuelle Aspekte einzelner Patienten im Auge hatten, wird vergessen", kritisierte der Hamburger Dermataloge Professor Matthias Augustin. So verhindern die an möglichst einheitlichen Patientengruppen getesteten Therapienormen und die daraus folgenden Reglementierungen eine individuellere Behandlung - "und in vielen Fällen die beste Therapie", wie Augustin erklärte.

Trotz nötiger und - vermeintlich - allgemein gültiger Evidenz brauche der Arzt Spielräume, um die Behandlung an die Situation des einzelnen Patienten anzupassen. Dies sei ein wichtiger Schritt zu einer individualisierten Medizin, die nicht nur Gruppen, sondern einzelne Patienten im Blick hat. "Auch muss wieder das Vertrauen in die Erfahrung und Entscheidungskraft des einzelnen Arztes wachsen", so Augustin. Hier muss also die Freiheit des Arztes bei der Behandlung wieder einen höheren Stellenwert erhalten.

In diesem Punkt stimmte sein Erlanger Kollege und Bluthochdruck-Spezialist Professor Roland Schmieder zu und verdeutlichte die Ebenen individueller Medizin - angefangen bei den von Medien oder Freunden geprägten Erwartungen des Patienten über Diagnostik und Therapie bis hin zur Versorgungsforschung. "Gerade da haben wir einige moderne Ansätze", sagte Schmieder. Manche Patienten wollen selbst ihre Therapie mit bestimmen, manche wollen strikt angeleitet werden. Andere brauchen Schulung - nicht nur durch den zeitlich meist sehr eingespannten Arzt, sondern auch durch Krankenschwestern und Arzthelferinnen, "die oft eher die Sprache der Patienten sprechen als wir selbst." Schmieder forderte den Einsatz von Verfahren, wie z.B. speziellen Patienten-Fragebögen, um die Bedürfnisse des Einzelnen rasch und einfach in Erfahrung zu bringen.

Wichtig schon bei der Diagnostik: Die Vorgeschichte des Patienten genau zu erfassen, seine Begleiterkrankungen, seine Erfahrungen mit früheren Behandlungsmethoden: "Das ist hoch individuell; danach müssen wir die Therapie für den Einzelnen abstimmen." Inwieweit die Analyse individueller Genprofile die Diagnostik generell revolutioniert, bleibt unklar. Angesichts von Abermillionen Genvarianten zeigte sich die Berliner Kardiologin Professor Vera Regitz-Zagrosek skeptisch: "Da waren die Erwartungen zu hoch." Allerdings setzen Krebsmediziner schon jetzt individuelle Gentests ein, um etwa vorherzusagen, "bei welchen Patienten bestimmte HighTech-Medikamente wirken und bei welchen nicht", unterstrich der Mannheimer Onkologe Professor Andreas Hochhaus. Dieser Trend werde sich in den kommenden Jahren verstärken.

Therapeutisch gesehen gilt heute und auch in Zukunft: Je mehr Medikamente für die Therapie einer Krankheit verfügbar sind, umso individueller lässt sie sich behandeln.

zuletzt bearbeitet: 05.07.2005 nach oben

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