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Übergewicht auch ein Stressproblem?
Neue Erkenntnisse aus der Adipositasforschung
Frustrierende Situationen kennt jeder. Doch während sich manche zu Frustessern entwickeln, die mit Übergewicht und einem schwer kontrollierbaren Hungergefühl kämpfen, verlieren die anderen den Appetit und verfallen in Depressionen. Schuld daran könnten zwei unterschiedliche Strategien des Körpers sein, mit den uns umgebenden Stressfaktoren umzugehen.
Was für schlanke Menschen als mangelnde Disziplin erscheint, ist für Übergewichtige ein scheinbar unüberwindbares Problem: das ständige Hungergefühl. Für viele ist dieses der Saboteur eines jeden Abnehmversuches, der sich mit jeder Diät noch verschlimmert. Dabei mag es für den erfolglosen Abnehmwilligen wie eine verbale Ohrfeige erscheinen, wenn ihm schlanke Zeitgenossen berichten, dass ihr aktueller Gewichtsverlust vom Stress herrührt. Er selbst neigt schließlich in frustrierenden Situationen dazu, seine selbst auferlegten Lebensmittelverbote über Bord zu werfen und mehr zu essen, als er sich sonst zugesteht. Was paradox zu sein scheint, ist nach den Erkenntnissen des Adipositas-Forschers Achim Peters das Ergebnis zweier unterschiedlicher Anpassungsstrategien an chronischen Stress.
Das Gehirn als unser wertvollstes Organ steht in der Versorgungshierarchie an erster Stelle. Signalisiert es Energiemangel, setzt der Körper alles in Bewegung, um Glukose aus den Energiespeichern Richtung Zentralnervensystem zu mobilisieren. In Stresssituationen verbraucht das Gehirn mehr Energie, wodurch ein Stresssystem in Gang gesetzt wird, das entsprechend mehr Glukoseenergie aus den Speichern ordert. Anhaltender Stress, dem wir mittlerweile nahezu täglich ausgesetzt sind, seien es finanzielle Engpässe, familiäre Probleme, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz oder der Drang um soziale Anerkennung, würde folglich zu einem permanenten Gewichtsverlust führen. Bei einigen Menschen ist das auch der Fall, wie Peters beschreibt. Diese stehen ständig unter Strom, vergessen über ihren Problemen häufig das Essen und nehmen ab. Was aus Adipositassicht erfreulich klingt, birgt auf Dauer allerdings die Gefahr für ernstzunehmende Depressionen.
Demgegenüber reagiert ein beträchtlicher Teil der Menschen entgegengesetzt. Hier dämpft der Körper die permanente Stressbelastung durch Aktivierung seines körpereigenen Beruhigungssystems. Diese Menschen begegnen frustrierenden Situationen mit einer höheren inneren Ruhe. Dennoch benötigt auch hier das Gehirn vermehrt Energie. Da das gehemmte Stresssystem die Versorgung nicht mehr aus den Körperreserven ausgleicht, muss das Gehirn seine Glukosezufuhr über andere Wege sichern. Die Lösung ist ein vermehrtes Hungergefühl. Typischerweise ist dieses häufig mit Appetit speziell auf kohlenhydratreiche Lebensmittel verbunden, wie Schokolade, Chips oder Nudeln. Menschen mit dieser körpereigenen Stressbewältigungsstrategie nehmen folglich kontinuierlich zu.
Das Hinterfragen des Essverhaltens ist folglich ein wichtiger Baustein bei der Bekämpfung von Übergewicht. Wer in belastenden Situationen mit "Mehressen" reagiert, sollte möglichst Strategien suchen, dem Stressauslöser entgegenzuwirken. Eine strenge Diät mit Verzicht und Verboten stresst in diesem Fall zusätzlich und fördert Hungerattacken. Sinnvoller ist es, Maßnahmen zu ergreifen, den Stress zu bewältigen, wie etwa das Erstellen von Prioritäten, das bewusste Einhalten von Entspannungsphasen, die Abkehr von überzogen Ansprüchen an sich selbst oder der Aufbau eines unterstützenden sozialen Umfeldes. Auf diesem Wege gelingt die Rückkehr zu einem normalen Essverhalten leichter und die Erfolgsaussichten für eine langfristige Gewichtsabnahme steigen.
Quelle: Achim Peters: "Das egoistische Gehirn". Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft. Ullstein Verlag, Berlin 2011.