Home > Aktuelles > Diabetes-Nachrichten > Archive > 2012 > 120826
Neue Forschungen zum "essenden Subjekt"
Wie passen Übergewicht und Fettleibigkeit mit Fitnesshype und Köperkult zusammen?
Die Fritz Thyssen Stiftung unterstützt für die Dauer von zwei Jahren ein neues Forschungsvorhaben am Lehrstuhl für Nordamerikanische Geschichte der Universität Erfurt von Prof. Dr. Jürgen Martschukat. Unter dem Titel "Das essende Subjekt: Eine Geschichte des Politischen in den USA vom 19. bis zum 21. Jahrhundert" beschäftigt sich das Projekt ab Oktober mit der Geschichte des Essens und der Ernährung in den USA im 19./20. Jahrhundert. Kooperationspartner ist das Deutsche Historische Institut Washington D.C.
Übergewicht und Fettleibigkeit werden gegenwärtig als ein Problem beschrieben, das in modernen Gesellschaften und insbesondere in den USA epidemische Ausmaße annimmt. Gleichzeitig ist ein Fitnesshype bzw. Körperkult zu beobachten, der dem gegenüberzustehen scheint. Aber wie passt das zusammen? Handelt es sich hier um zwei unabhängig voneinander existierende Phänomene moderner Gesellschaften oder doch um zwei unterschiedliche Ausprägungen ein und desselben Phänomens? Von dieser Beobachtung ausgehend, wollen Prof. Dr. Jürgen Martschukat und seine Mitarbeiterinnen Nora Kreuzenbeck und Nina Mackert mit ihrer Forschung eine Geschichte des Essens, des Dickseins, der Gesundheit und ihrer Regulierungen in den USA seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schreiben.
"Essen und Adipositas sind deshalb so ergiebige Phänomene für die historische Analyse, weil sie ins Zentrum moderner, liberaler Gesellschaftsordnung hineinführen", erklärt Professor Martschukat. "Denn in dieses Zentrum war im Zuge der Aufklärung der 'freie Mensch' gerückt, der gefordert ist, sich permanent als solcher zu beweisen indem er ein leistungsfähiges Mitglied der Gesellschaft ist und so zur Sicherung der freiheitlichen Ordnung beiträgt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein leistungsfähiger Körper mehr und mehr Ziel und Ausdruck verantwortungsbewussten Handelns, übergewichtige Menschen wurden als problematisch erachtet, Diät-, Fasten- und Fitnessbewegungen entstanden. Bis heute kämpfen die Menschen mit diesen Anforderung und so wird die Geschichte der Ernährung in modernen, liberalen Gesellschaftsordnungen auch eine politische."
Das Erfurter Forscherteam untersucht nun das Thema in zwei Teilprojekten - das erste wird sich von den 1850er- bis zu den 1950er-Jahren erstrecken, das zweite von den 1930er-Jahren bis zur Gegenwart - anhand von drei Fragekomplexen: Erstens sollen Essen und Ernährung als zentrale Kraft in der Formierung und Regulierung von modernen Gesellschaften unter die Lupe genommen werden. Zweitens soll herausgearbeitet werden, inwieweit Ernährung mit soziokulturellen Unterschieden wie Klasse, Rasse und Geschlecht im Zusammenhang steht und drittens wird sich das Projekt dem institutionellen Rahmen widmen, also Verbänden, Organisationen, Vereinen etc., in denen Essen und Ernährung eine Rolle spielen. Und dabei wird es auch schauen, wie sich die verschiedenen Akteurinnen und Akteure im Laufe der Geschichte zu diesem Thema verhalten.
Die Wissenschaftler werden bei ihrer Arbeit verschiedene historische Forschungsbereiche miteinander verknüpfen, von der Historischen Anthropologie und der Körpergeschichte über die Kultur- und Sozialgeschichte und Konsumgeschichte bis zur Kulturgeschichte des Politischen. Das Projekt ist interdisziplinär angelegt und profitiert so nicht nur von den Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern unter anderem auch von der kulturwissenschaftlichen Subjektforschung, den Ernährungs- und Gesundheitswissenschaften.
"Die Problematisierungen von Essen und Dicksein können nur innerhalb historisch veränderlicher, kultureller Gegebenheiten und Mechanismen verstanden werden", erläutert Prof. Dr. Jürgen Martschukat, der zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen mit diesem Projekt Grundlagenforschung zu diesem zentralen Phänomen liberaler Gesellschaften betreiben und zeigen wird, welch wichtigen Beitrag, Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften zu ernährungs- und gesundheitswissenschaftlichen Fragestellungen leisten. "Wir wollen zeigen, wie Essen dazu beiträgt, Sinn und soziokulturelle Ordnungen herzustellen und Subjekte über ihre Körper in diese Ordnungen einzubinden. Damit lässt sich eine Geschichte des Essens als Geschichte der Moderne und ihrer Transformationen schreiben."
Diese Pressemitteilung wurde über den - idw - versandt.