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Geriatrische Diabetiker in Deutschland
Versorgungssituation zeigt vielschichtige Herausforderung
Erstmals wurde in einer deutschlandweit angelegten Studie die Versorgungssituation geriatrischer Typ-2-Diabetiker untersucht, die vor einer Insulinisierung stehen. Im Mittelpunkt der vom Zentrum für Altersmedizin des Agaplesion Bethesda Krankenhauses Stuttgart und der BERLIN-CHEMIE AG durchgeführten Versorgungsstudie VEGAS standen praxisrelevante Einflussfaktoren und ärztliche Entscheidungsgründe.
"Bei der Ersteinstellung von geriatrischen Typ-2-Diabetikern auf Insulin prägt vor allem die praktische Umsetzbarkeit einer Therapie im Alltag die Wahl des Therapieziels und -regimes", resümiert Studienleiter Dr. med. Dr. Univ. Rom Andrej Zeyfang, Stuttgart. VEGAS zeigte zugleich, dass zielgruppenspezifische Schulungsprogramme wie die "Strukturierte Geriatrische Schulung" (SGS) noch selten genutzt werden. "Die VEGAS-Studie belegt eindrucksvoll die Vielschichtigkeit geriatrischer Symptome bei Typ-2-Diabetikern, die zur erstmaligen Insulinisierung vorgesehen sind", erklärt Zeyfang.
Körperliche Beeinträchtigungen traten bei fast allen Patienten auf, sehr oft mehrere gleichzeitig. Neben den weit verbreiteten Hörproblemen (80 %) hatte ein Drittel der Patienten bereits offensichtliche kognitive Defizite und mehr als die Hälfte wurde als depressiv beurteilt. Als "physisch gebrechlich" wurde insgesamt ein Drittel eingestuft. Begleiterkrankungen betrafen in erster Linie das Herz (72 %) und zu je etwa 30 % cerebrovaskuläre bzw. neurologische Erkrankungen sowie Osteoarthrose. Fast jeder Patient wies bereits eine diabetesbedingte Folgeerkrankung auf.
Therapieziele geprägt durch Alltagstauglichkeit
Die Wahl von Therapieziel und -regime wurde maßgeblich durch die praktische Umsetzbarkeit, insbesondere den Erhalt der Selbstständigkeit bzw. die Notwendigkeit von Pflege geprägt. Anlass für die de novo-Einstellung der Patienten auf Insulin war in den meisten Fällen (66 %) eine angestrebte effizientere HbA1c-Senkung.
Die antidiabetische Vorbehandlung erfolgte zumeist mit Metformin (78 %) bzw. Sulfonylharnstoff (SH,b53 %) und wurde bei fast 80 % der Metformin- bzw. 19 % der SH-Patienten in Kombination mit Insulin fortgesetzt. Häufigstes geplantes Therapieschema war die konventionelle Insulintherapie (CT, 39 %), gefolgt von der basal unterstützten oralen Therapie (BOT, 31 %), der intensivierten (ICT, 20 %) und der supplementären Insulintherapie (SIT, 9 %). Die Einstellung auf eine CT erfolgte vergleichsweise häufiger bei höherem Alter, höherem HbA1c, kognitiven Störungen oder bestehender Pflegestufe.
Die Mehrheit der Patienten erhielt nach der Umstellung ausschließlich Humaninsulin, 43 % bekamen ausschließlich Analoginsulin. Fertig-Pens standen dabei hoch im Kurs: mehr als 60 % aller Patienten nutzten diese, Patienten mit feinmotorischen Störungen sogar zu 71 %. Bei einem Teil der Patienten (23 %) erhöhte die Insulinisierung den Pflegeaufwand. "Durch eine geschickte Wahl des Therapieregimes und vor allem durch geeignete Schulungsmaßnahmen lässt sich die Selbstständigkeit des Patienten oft erhalten", erklärt Zeyfang.
Schulung ist nicht gleich Schulung
Ein überraschendes Ergebnis der Studie war für Zeyfang, dass für 64 % aller Patienten eine Schulung vorgesehen war ? allerdings vor allem mit Schulungsprogrammen, die für Menschen im mittleren Lebensalter entwickelt wurden. Das speziell für Senioren und auch insbesondere für motorisch und kognitiv eingeschränkte Personen geeignete Programm "Strukturierte Geriatrische Schulung" (SGS) war nur für 7 % der Patienten geplant, und lediglich 25 % der Angehörigen bzw. 18 % der Pflegenden der betroffenen Patienten sollten ebenfalls geschult werden.
"In der VEGAS-Studie wurden keine kognitiven Messungen durchgeführt. Daher müssen wir davon ausgehen, dass der wahre Anteil kognitiv beeinträchtigter Patienten höher liegt. Eine Umstellung auf Insulin kann bei diesen Patienten gefährlich sein, sofern sie nicht von einer geeigneten Schulungsmaßnahme begleitet wird", kommentiert Zeyfang. "SGS wurde didaktisch speziell auf geriatrische Patienten abgestimmt. Die Evaluation zeigte, dass selbst Patienten mit mittelschwerer Demenz von SGS profitieren und zudem die Selbststeuerung der Therapie viel intensiver wahrnehmen."
VEGAS basiert auf 4.858 vollständig ausgefüllten standardisierten Fragebögen aus 520 Zentren. Das durchschnittliche Patientenalter lag bei 78 Jahren (38 % ≥ 80 Jahre). Autonom wohnte ein Viertel der Patienten, die meisten (58 %) lebten zusammen mit Angehörigen, 11 % im Pflegeheim und 6 % nutzen betreutes Wohnen. Seit der Diagnose Diabetes mellitus waren rund elf Jahre vergangen. Der HbA1c zum Erhebungszeitpunkt vor Insulineinstellung lag bei 8,6 %, der BMI bei 30,1 kg/m2.
Quellen
- Zeyfang A et al. "Versorgungsstudie zur Erstinsulinisierung Geriatrischer Diabetiker im Ambulanten Sektor", Poster 16, 47. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft 2012.
- Braun AK et al. "SGS: a structured treatment and teaching programme for older patients with diabetes mellitus - a prospective randomised controlled multi-centre trial." Age Ageing 2009; 38(4): 390-396.