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Warum wir ein Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel brauchen

Expertenstatement von Dr. med. Kai Kolpatzik, Leiter der Abteilung Prävention beim AOK-Bundesverband, im Rahmen der gemeinsamen Online-Pressekonferenz von AOK und Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) am 11. März 2021.

AOK-Bundesverband fordert Maßnahmen zum Schutz der Kindergesundheit

Dr. med. Kai Kolpatzik, Leiter der Abteilung Prävention beim AOK-Bundesverband Kinder sind täglich den Lockrufen von Fast-Food-Produzenten, Süßwarenherstellern und anderen Anbietern ungesunder Lebensmittel im Internet und Fernsehen ausgesetzt. Laut unserer aktuellen Studie im Durchschnitt bis zu 15 mal pro Tag. Aus Sicht der AOK sind das 15 Berührungspunkte zu viel. Bereits im Mai 2017 hat der AOK-Bundesverband zusammen mit Prof. Effertz eine Studie zum Kindermarketing für Lebensmittel im Internet veröffentlicht. Schon damals haben wir deutliche Kritik an der massiven Werbemaschinerie der Lebensmittelindustrie geäußert und verpflichtende Maßnahmen für die Wirtschaft zum Schutz der Kindergesundheit gefordert. Knapp vier Jahre später müssen wir leider erkennen: Es hat sich nichts getan.

Seitens der Lebensmittelindustrie ist offenkundig keine Ãœbernahme von Verantwortung oder Unterstützung zu erwarten. Sie werben weiterhin mit beispielsweise Fußballidolen oder Nationalmannschaften für ungesunde Kinderlebensmittel und steigern damit das Risiko, dass Kinder krank werden, zum Beispiel eine Adipositas entwickeln oder Karies bekommen. Mit dem sogenannten "EU Pledge" gibt es seit 2007 lediglich eine freiwillige Selbstverpflichtung der weltgrößten Lebensmittelunternehmen auf der europäischen Bühne. Unsere Untersuchung aus dem Jahr 2017 wie auch andere Untersuchungen haben jedoch deren Unwirksamkeit bestätigt.

Wie wenig Interesse die Akteure an einem Kurswechsel hin zu einer gesünderen Ernährung in Deutschland haben, zeigt sich auch ganz aktuell im Rahmen der Nationalen Reduktionsstrategie für Zucker, Salz und Fette. So belegen auch hier die jüngsten Monitoring-Ergebnisse, dass Reduktionsziele, die sich die Lebensmittelindustrie selbst auferlegt hat, zu keinen wesentlichen Veränderungen führen. Auch die AOK-Cerealienstudie hat 2020 gezeigt, dass 99 Prozent der Frühstückscerealien, die an Kinder vermarktet werden, mehr Zucker enthalten, als es die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt.

International gibt es viele Vorbilder, wie das längst überfällige Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel umgesetzt werden kann. Es scheitert also nicht am Wissen, sondern am politischen Willen. Bund und Länder müssen hier jeweils ihre Verantwortung übernehmen und eine Umsetzung forcieren. So ist es geradezu paradox, dass der Gesetzgeber derzeit stattdessen lieber über eine Verordnung diskutiert, die den Krankenkassen unter anderem verbieten will, die Bevölkerung mithilfe von Werbemaßnahmen im Spitzen- und Breitensport für einen gesunden Lebensstil zu sensibilisieren. Gleichzeitig aber zeigt sich die Politik nicht bereit, der Lebensmittelindustrie das millionenschwere Kindermarketing mit milliardenschweren Krankheitsfolgen komplett zu untersagen. So belaufen sich die Kosten für die Behandlung der Karies auf jährlich über acht Milliarden Euro und für die Folgekosten der Adipositas auf jährlich über 63 Milliarden Euro.

Hierzu auch zwei interessante Fakten: Den Statistiken zufolge hat der Lebensmitteleinzelhandel 2019 die Automobilbranche von Platz 1 der höchsten Werbeausgaben verdrängt. Allein die Bruttowerbeaufwendungen für Süßwaren betrugen im Jahr 2019 in Deutschland rund 900 Millionen Euro. Viel Geld, dass sinnvoller investiert werden könnte.

Die sozialen Medien müssen dabei besonders in den Blick genommen werden. Auch wenn es Altersbegrenzungen für die Nutzung gibt, sieht die Realität anders aus. Auch Facebook und Co. sollten sich der Verantwortung stellen und Kinder vor ungesundem Marketing schützen.

Ein alleiniges Werbeverbot wird jedoch nicht ausreichen, um ernährungsbedingte Krankheiten dauerhaft in den Griff zu bekommen. Wenn sich Kinder und Jugendliche gesünder ernähren sollen, braucht es ein Bündel an Maßnahmen inklusive gesetzlicher Schritte. Dazu zählen die Einführung einer Softdrink-Steuer nach dem Vorbild Großbritanniens oder die Umsetzung einheitlicher Standards für die Kita- und Schulverpflegung. Für diese Maßnahmen gibt es bereits eine breite Allianz in Deutschland.

Darüber hinaus brauchen wir mehr Unterstützungsangebote für Bürgerinnen und Bürger. Denn nur knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung verfügt derzeit über eine adäquate Ernährungskompetenz. Die Einführung des Nutri-Score in Deutschland war ein erster guter Schritt, dem jedoch die verpflichtende Einführung auf EU-Ebene folgen muss.

Die Menschen in ihrer Gesundheits- und Ernährungskompetenz zu stärken, genau darin sehen wir als AOK unsere Aufgabe. Seit vielen Jahren entwickeln wir Präventionsangebote rund um Bewegung und gesunde Ernährung und unterstützen die Menschen dabei, gesünder zu leben. Dazu gehört auch der "Zuckerkompass", ein digitales und interaktives Programm, das Schulen seit vergangener Woche kostenfrei zur Verfügung steht. Damit wollen wir Lehrkräfte, Kinder und Eltern noch stärker für das Thema Zuckerkonsum sensibilisieren.

Zugesetzter Zucker ist uns als AOK seit vielen Jahren ein Dorn im Auge. Für die Industrie ist er hingegen ein günstiger Rohstoff. Aber Gewinne dürfen nicht länger auf Kosten der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gesteigert werden. Es wird daher höchste Zeit, die Lebensmittelindustrie in die Pflicht zu nehmen. Denn freiwillige Selbstverpflichtungen, ganz egal ob im Rahmen der Nationalen Reduktionsstrategie oder beim Werbeverbot für Kinderlebensmittel, liefen bisher ins Leere.

(Es gilt das gesprochene Wort!)

Bildunterschrift: Dr. med. Kai Kolpatzik, Leiter der Abteilung Prävention beim AOK-Bundesverband
Bildquelle: AOK-Bundesverband

zuletzt bearbeitet: 12.03.2021 nach oben

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