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Inkretin-Agonisten bei Typ-2-Diabetes und Adipositas
Statement von Prof. Dr. med. Baptist Gallwitz, Kongresspräsident Diabetes Kongress 2024 und Pressesprecher der DDG, Berlin, im Rahmen der 58. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) am 10. Mai 2024.Fachgesellschaft kritisiert Einsatz von "Abnehmspritze" als Lifestyle-Medikament
Inkretine sind Darmhormone, die nach einer Mahlzeit aus der Darmschleimhaut in die Blutbahn abgegeben werden und maßgeblich an der Stoffwechselregulation beteiligt sind. Dabei beeinflussen sie die Organfunktionen von Bauchspeicheldrüse, Leber, die Magenentleerung und die Appetitregulation im Gehirn. Beim Menschen sind "Glucagon-like peptide-1 (GLP-1)" und "Glucose-dependent insulinotropic polypeptide (GIP)" zwei sehr wichtige Inkretinhormone, die nach einer Mahlzeit die Ausschüttung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse stimulieren. Bei einer Aufnahme von Traubenzucker (Glukose) mit einer Mahlzeit ist durch die Freisetzung dieser Inkretine die Insulinsekretion deutlich stärker ausgeprägt, als wenn Glukose als Infusion direkt in die Blutbahn gegeben wird.
Im Jahr 1979 postulierte Werner Creutzfeldt in Göttingen erstmals diesen "Inkretineffekt". In den frühen 1990er-Jahren wurde durch Michael Nauck und Werner Creutzfeldt in Göttingen und andere Forschende in Kopenhagen (um Jens Holst), Boston (um Joel Habener) und Toronto (um Daniel Drucker) offenbar, dass bei Typ-2-Diabetes (T2D) der Inkretineffekt eingeschränkt ist, jedoch durch exogene Gabe von GLP-1 die Stoffwechsellage wieder ohne Unterzuckerungsrisiko normalisiert werden kann. Damit bestand erstmals Interesse, das Wirkprinzip von GLP-1 therapeutisch für die Behandlung des T2D nutzbar zu machen. GLP-1 ist ein Peptid, das gespritzt werden muss und im Körper innerhalb von wenigen Minuten abgebaut wird, daher ist es selbst zur Therapie schlecht geeignet.
Es dauerte dann bis 2005, bis das erste GLP-1-ähnliche Präparat (GLP-1-Rezeptoragonist, abgekürzt GLP-1-RA) Exenatide als Diabetesmedikament mit längerer Halbwertszeit im Körper zur zweimal täglichen Injektion auf den Markt kam. In den Folgejahren wurden länger und stärker wirkende GLP-1-RA entwickelt, derzeit sind einige Präparate zur einmal wöchentlichen Injektion erhältlich. Die meisten dieser Präparate haben eine sehr gute Wirksamkeit und Sicherheit zur Behandlung des T2D gezeigt. Neben der blutzuckersenkenden Wirkung ohne eigenes Hypoglykämierisiko verlangsamen sie die Magenentleerung und führen zusätzlich durch direkte Wirkung im Stammhirn zu einem gesteigerten Sättigungsgefühl (das am Anfang der Therapie oft auch bis zur Übelkeit gesteigert sein kann). Als Resultat nehmen Menschen mit dieser Behandlung auch an Körpergewicht ab. Zusätzlich wird der Blutdruck leicht gesenkt. Die GLP-1-RA Albiglutid (derzeit nicht verfügbar), Dulaglutid, Liraglutid und Semaglutid haben darüber hinaus in Langzeitstudien Vorteile bezüglich kardiovaskulärer Endpunkte (kombinierter MACE-3-Endpunkt aus plötzlichem Herztod, nicht tödlichem Herzinfarkt und nicht tödlichem Schlaganfall) gegenüber herkömmlicher Diabetestherapie gezeigt. Aus diesem Grund werden GLP-1-RA in den Leitlinien für Menschen mit T2D und Gefäßkrankheiten als bevorzugte Therapie empfohlen.
Der gewichtssenkende Effekt der GLP-1-RA hat ferner zur Zulassung von Liraglutid und Semaglutid in höheren Dosierungen als zur Therapie des T2D zur Adipositastherapie geführt. Semaglutid hat in einer Langzeitstudie (SELECT-Studie) bei Adipösen mit hohem kardiovaskulärem Risiko oder kardiovaskulären Vorerkrankungen das kardiovaskuläre Risiko senken können. Mittlerweile ist ein erster sogenannter Inkretin-Doppelagonist (Tirzepatid), der die Rezeptoren sowohl von GIP als auch von GLP-1 stimuliert, zur Therapie des T2D und der Adipositas zugelassen. Die Strategie, Doppel- und Mehrfachagonisten für Inkretine und für das Hormon Glucagon zu entwickeln, beruht auf der Hypothese, dass diese Doppel- und Mehrfachagonisten noch stärker wirksam sind als die klassischen GLP-1-RA und dass so möglicherweise auch gezielt Stoffwechselwirkungen zusätzlich moduliert werden können. Neben Tirzepatid, dem ersten GIP/GLP-1-RA, sind zahlreiche weitere Substanzen derzeit in der klinischen Prüfung. Tirzepatid war in einer klinischen Studie im Direktvergleich zu Semaglutid noch stärker HbA1c-senkend bei T2D und führte auch zu einem noch größeren Gewichtsverlust.
In letzter Zeit ist um diese Präparate in der Öffentlichkeit und den sozialen Medien ein sehr großes Interesse entstanden und vor allem Semaglutid und Tirzepatid wurden als "Abnehmspritze" auch sehr unkritisch propagiert. Dies hat in der Versorgung vor allem von Menschen mit T2D mit inkretinbasierten Therapien zu wechselnd ausgeprägten Engpässen geführt, die auch noch anhalten.
Die DDG steht dieser Entwicklung und dem Einsatz von inkretinbasierten Therapien als Lifestyle-Medikament sehr kritisch gegenüber. Inkretinbasierte Medikamente führen zwar zu einem guten Gewichtsabnahmeeffekt von bis zu circa 20 Prozent des Ausgangsgewichts, die Körpergewichtsabnahme sistiert aber nach etwa 6 bis 12 Monaten und es stellt sich dann ein Gewichtsplateau ein. Nach derzeitigem Studienstand nimmt das Körpergewicht auch nach Absetzen der Behandlung wieder zu, sodass möglicherweise eine lebenslange Therapie zur Gewichtsreduktion und zum Gewichtserhalt notwendig ist. Zudem ist aus zahlreichen Studien bekannt, dass eine Adipositastherapie als alleinige Medikamententherapie ohne Lebensstilintervention, kontinuierliche Ernährungsberatung, kontinuierliche Bewegungstherapie und psychologische Begleittherapie deutlich weniger erfolgreich ist. Derzeit haben daher Medikamente inklusive der inkretinbasierten Therapien im Disease-Management-Programm (DMP) Adipositas noch keinen festen Platz.
Ein Highlight des Diabetes Kongresses wird am Samstag, den 11. Mai 24 das Werner-Creutzfeldt-Symposium anlässlich des 100. Geburtstages des Internisten sein. Professor Jens Holst aus Kopenhagen, der ebenfalls an der Entwicklung der inkretinbasierten Therapien beteiligt war, wird unter anderem in diesem Symposium diese Entwicklung und ihre Zukunftsperspektiven Revue passieren lassen.
Es gilt das gesprochene Wort!
Bildunterschrift: Professor Dr. med. Baptist Gallwitz
Bildquelle: Deutsche Diabetes Gesellschaft
Foto: Dirk Deckbar