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Diabetische Polyneuropathie
Statement von Prof. Dr. med. univ.. Julia Szendrödi, Vizepräsidentin der DDG, Ärztliche Direktorin der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie, Stoffwechselkrankheiten und Klinische Chemie des Universitätsklinikums Heidelberg, im Rahmen der 58. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) am 10. Mai 2024.Wie neue klinische Entwicklungen Prävention und Therapie verbessern könnten
Wir stehen vor einer Epidemie des Typ-2-Diabetes. Laut der "Global Burden of Disease"-Studie lebten im Jahr 2021 529 Millionen Menschen mit Typ-2-Diabetes, und bis zum Jahr 2050 wird diese Zahl voraussichtlich auf über 1,31 Milliarden ansteigen. Die diabetische Neuropathie ist eine der häufigsten mikrovaskulären Komplikationen sowohl des Typ-1-Diabetes als auch des Typ-2-Diabetes. Diabetische Neuropathie bleibt sowohl in diagnostischer als auch in therapeutischer Hinsicht eine erhebliche klinische Herausforderung. Diese Erkrankung wird definiert als eine Reihe von klinischen Symptomen im peripheren oder autonomen Nervensystem, die im Kontext von Diabetes mellitus entstehen und nicht auf andere Ursachen für periphere Neuropathie zurückgeführt werden können. Eine Neuropathie kann jedoch schon im Stadium des Prädiabetes auftreten, also bei einer erhöhten Nüchternglukose (IFG) und/oder gestörten Glukosetoleranz (IGT). Verschiedene Studien zeigen, dass im Vergleich zu gesunden Personen eine höhere Prävalenz sowohl der diabetischen sensomotorischen Polyneuropathie (DSPN) als auch der kardiovaskulären autonomen Neuropathie bei Prädiabetes vorhanden ist.
Der klinische Stellenwert der DSPN wird häufig unterschätzt. Zudem zeigen verschiedene Studien, dass das Screening auf Neuropathie in der allgemeinmedizinischen Versorgung nicht ausreichend genutzt wird. Trotz klarer Hinweise darauf, dass neuropathische Defizite wie die Reduktion oder der Verlust des Berührungs-, Druck- oder Vibrationsempfindens direkte Prädiktoren für die Entwicklung von neuropathischen Fußulzera sind, bleibt die DSPN oft unterdiagnostiziert und unterbehandelt. Fußulzera tragen wiederum zu einer signifikant erhöhten Rate an Krankenhausaufenthalten, Pflegebedürftigkeit, Arbeitsausfällen sowie den damit verbundenen Kosten und auch zu häufigeren Amputationen der unteren Extremitäten bei Diabetespatienten bei. Zudem erhöht die DSPN das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, einschließlich Myokardinfarkt und koronarer Herzkrankheit, sowie für eine erhöhte Mortalitätsrate. Darüber hinaus berichten etwa 50 Prozent der Patienten, die an DSPN leiden, über schmerzhafte neuropathische Symptome. Diese Symptome sind oft stark ausgeprägt und können zu klinisch relevanten Zuständen wie Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen und einer signifikant verminderten Lebensqualität führen.
Die Pathophysiologie der DSPN ist komplex und noch nicht vollständig aufgeklärt. Sie resultiert aus einer Vielzahl von Störungen auf zellulärer und Gewebeebene, die sowohl vaskuläre als auch neurale Dysfunktionen hervorrufen. Zu den morphologischen Merkmalen der DSPN gehören axonale Degeneration, Demyelinisierung und Mikroangiopathie. Die Kombination aus Hyperglykämie, Dyslipidämie und gestörter zellulärer Signalwege führt zu oxidativem Stress, Entzündungen und mitochondrialer Dysfunktion, die wesentlich zu neuronalen Schäden beitragen. Das unzureichende Verständnis der Pathophysiologie der DSPN führt dazu, dass bislang keine wirksamen krankheitsmodifizierenden Medikamente zur Verfügung stehen. Diese Situation besteht trotz vielfältiger erfolgreicher Erkenntnisse aus Tierstudien. Der vorherrschende Ansatz zur Behandlung der DSPN konzentriert sich daher auf die Kontrolle der Risikofaktoren wie die Erreichung der Ziele zur Cholesterinsenkung und die Therapie ihrer Komplikationen.
Auch hier besteht eine drastische Unterversorgung der Patienten in Deutschland, da viele Patienten ihre Ziele nicht kennen und häufig diese auch nicht erreichen. Therapien, die direkt die Krankheit modifizieren, werden selten bei schmerzhafter Polyneuropathie angewandt, stattdessen liegt der Schwerpunkt meist auf der Symptomlinderung. Behandlungen zur Bekämpfung neuropathischer Schmerzen erweisen sich jedoch oft als wenig wirksam und schlecht verträglich. Umso wichtiger ist daher die frühe Aufklärung darüber, welche Maßnahmen zur Prävention der DSPN ergriffen werden müssen, wie etwa die regelmäßige Kontrolle der Füße, deren Pflege und die Auswahl der adäquaten Schuhversorgung sowie die Kontrolle von Blutdruck, Cholesterin und Blutglukosewerten, Gewichtsreduktion und Nikotinkarenz.
Zwei wichtige Studien
In einer im Jahr 2022 veröffentlichten multizentrischen randomisierten Studie wurde die Wirksamkeit von Amitriptylin, Duloxetin und Pregabalin als Monotherapien sowie verschiedener Zweierkombinationen dieser Medikamente (Pregabalin mit Amitriptylin oder Duloxetin, Amitriptylin mit Pregabalin) zur Schmerzreduktion untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass das Ansprechen auf die einzelnen Monotherapien ähnlich war. Bei Patienten, die auf eine Monotherapie nicht ausreichend reagierten, führte die Kombinationstherapie zu einer signifikant stärkeren Schmerzreduktion. Zwischen den unterschiedlichen Kombinationstherapien konnten jedoch keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden. (S. Tesfaye et al. Lancet. 2022 Aug 27; 400(10353):680-690)
Pop-Busui et al. untersuchten die Wirkung von LX9211, einem oral verabreichten, nicht opioiden AAK1-Inhibitor, zur Behandlung von schmerzhafter diabetischer peripherer Neuropathie in einer Phase-2-Studie. Die doppelblinde, Placebo-kontrollierte, multizentrische Studie (RELIEF-DPN 1) zielte darauf ab, die Sicherheit und Wirksamkeit von LX9211 zu bewerten. In der Studie erhielten Teilnehmer entweder ein Placebo oder LX9211 in niedriger oder hoher Dosis über sechs Wochen. Die hohe Dosis von LX9211 zeigte eine signifikante Verbesserung im Neuropathic Pain Symptom Inventory. Beide Dosierungen verbesserten zudem Brennen, Schmerzeinwirkung auf den Schlaf und die globale Patientenwahrnehmung der Veränderung. LX9211 beeinflusste keine wichtigen kardiometabolischen Parameter und es wurden keine negativen Ereignisse berichtet. (R. Pop-Busui et al. Diabetes. 2023;72[Supplement_1]:103-OR)
Eine kürzlich veröffentlichte Studie zur Nervendekompression hat die Überlegenheit dieser Therapieform letztendlich infrage gestellt:
Die Studie "Effect of Lower Extremity Nerve Decompression in Patients with Painful Diabetic Peripheral Neuropathy" untersuchte die Auswirkungen einer Nervendekompression bei schmerzhafter diabetischer peripherer Neuropathie. Es handelt sich um eine randomisierte, doppelblinde Studie, bei der einige Patienten eine Nervendekompression erhielten, während andere als Kontrollgruppe dienten oder eine Scheinoperation erhielten. Die Patienten wurden über 12 Monate und in einer Erweiterung bis zu 56 Monaten nachbeobachtet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Nervendekompression anfänglich mit einer signifikanten Schmerzreduktion verbunden war, verglichen mit der Kontrollgruppe. Langfristig zeigte sich eine anhaltende Schmerzreduktion in der Gruppe, die eine Nervendekompression erhielt, im Vergleich zur Kontrollgruppe. Interessanterweise verbesserten sich auch die Schmerzwerte in den Beinen der Scheinoperationsgruppe, was auf einen möglichen Placeboeffekt hindeutet. Daher liefern die aktuellen Daten keinen definitiven Nachweis für den Nutzen der chirurgischen Dekompression bei schmerzhafter diabetischer peripherer Neuropathie. (Ann Surg. 2024 Feb 8. doi: 10.1097/SLA.0000000000006228)
Es gilt das gesprochene Wort!
Bildunterschrift: Prof. Dr. med. univ. Julia Szendrödi
Bildquelle: www.diabsite.de